E. Joris u.a. (Hrsg.): Frauengeschichte(n)

Cover
Titel
Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz


Herausgeber
Joris, Elisabeth; Witzug, Heidi
Erschienen
Zürich 2021: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
624 S.
von
Brigitte Studer, Historisches Institut, Universität Bern

Die Publikation Frauengeschichte(n) ist ein Palimpsest wie der Feminismus und die Frauen- und Geschlechtergeschichte selbst, ein «work in progress», ein nie ganz abgeschlossenes kollektives Unterfangen. Das Werk liegt nun in einer dritten, erweiterten Ausgabe vor. Es ist von Zeitschichten durchzogen und immer noch aktuell. Schon seine Rezeption gibt Einblick in den wandelnden Status der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Schweizer Historiografie. 1986, als das Buch einen ersten Meilenstein in die Schweizer Geschichtslandschaft setzte, erschienen – soweit ich sehe – nur drei Besprechungen, alle in linken und feministischen Periodika: eine in der Wochenzeitung, eine andere in der Emanzipation, die dritte in Femmes suisses, während die Publikation grossen Tageszeitungen wie der NZZ bestenfalls eine kurze Notiz Wert war.1 Die SZG, immerhin das offizielle Organ der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte, rezensierte weder die Erstausgabe noch die erweiterte Zweitausgabe von 2001 – dies soll nun nachgeholt werden. Dabei handelte es sich, wie sich sehr schnell zeigte, um einen der seltenen Schweizer Bestseller der Geschichtswissenschaft und ein Standardwerk.

Leicht zu besprechen ist das Buch freilich nicht. Nicht nur wegen seines inhaltlichen Reichtums, sondern auch wegen seines anspruchsvollen Genres, zugleich Dokument und Darstellung, Quelle und Analyse. Inhaltlich bestehen die drei Editionen mehrheitlich aus denselben fünf Teilen der Erstausgabe, 2001 und 2021 durch einen Nachtrag (je 12 und 29 Seiten) zu den Entwicklungen der letzten Jahre ergänzt. Die thematisch geordneten rund 300 Dokumente zum «weiblichen Geschlechtscharakter», zur Familie, zur Erwerbstätigkeit, zu Weiblichkeit als Norm und zur Geschichte der Frauenorganisationen werden jeweils durch einen mehr oder weniger umfangreichen Text (der längste umfasst 72 Seiten) eingeleitet. Für die Neuausgabe wurde die Bibliografie leicht ergänzt. Etwas irritierend ist jedoch, dass weiterhin kaum von der französisch- und italienischsprachigen Literatur Notiz genommen wird.

Hier kann nur auf die Fülle des vielfältigen, in unterschiedlicher Form wiedergegbenen Quellenmaterials aus zwei Jahrhunderten hingewiesen werden: Faksimiledrucke von Flugblättern, Zeichnungen, Resolutionen, Zeitschriftentiteln und -aufsätzen, der Inhalt von Petitionen, Zeitungsartikeln, Gesetzesbestimmungen, kritischen Wortmeldungen und theoretischen Erörterungen, ferner Textauszüge aus Parlamentsprotokollen, ehelichen Ratgebern und anderen normativen Quellen. Die für die Ausgabe 2021 hinzugefügten Quellen sind online über www.frau-engeschichte-n.ch zugänglich, eine editorische Wahl, die man auch bedauern kann. Sozusagen als Bonus werden alle Themen, auch die Ergänzungen von 2001 und 2021, durch eine reiche Auswahl grossartiger Fotos illustriert – visuelle Quellen, deren Interpretation zweifellos gewinnbringend hätte sein können, die aber der Leserin bzw. dem Leser überlassen wird.

Liest man die drei Ausgaben im Vergleich, ergeben sich einige aufschlussreiche wissenschaftsgeschichtliche Erkenntnisse. Historiografische Revisionen fallen ins Auge und theoretische Neuerungen, wie auch Verschiebungen und Verwerfungen. Selbstverständlich hat sich der Forschungsstand in vielen Bereichen erweitert. Das Feld der Frauengeschichte stand in den 1980er Jahren in der Schweiz erst am Anfang, der Band entstand aus dem Bedarf die eklatanten Wissenslücken zu füllen. Einiges, wie das ideologiebefrachtete Konzept des «ganzen Hauses», wird mittlerweile kritisch betrachtet und in seinem rechtskonservativen Entstehungskontext situiert. Anderes, wie der Begriff der «Verbürgerlichung» der Arbeiterfamilie, wird nuanciert. Neue soziale Gruppen und Milieus sind in den Blick geraten, andere eher in den Hintergrund oder ganz verschwunden. Während 2021 nun auch erstmals schwarze Frauen in Bild und Text eine Rolle spielen, scheint in der Relevanzhierarchie die Arbeiterfamilie von der Patchworkfamilie abgelöst worden zu sein. Die Berücksichtigung von Klassendifferenzen in den Lebensformen und Lebensstandards fehlt ab der Zweitausgabe. Verwendet wird nun in der Neuausgabe von 2021 hingegen auch die Bezeichnung «Feminismus» für die Frauenbewegung, respektive für das Handeln der Personen und Gruppen, die sich für die Rechte der Frauen und für die Ideen einsetzen, die Gleichberechtigung oder sogar eine weibliche Emanzipation postulieren – eine Bezeichnung, die bislang, wenn nichts täuscht, nur adjektivisch vorkam und die im Deutschen bekanntlich lange negativ besetzt war.2 Ebenso wird im Nachtrag von 2021 nun auch der weiblichen Kulturproduktion und neuen kulturellen Ausdrucksformen in einem eigenen Abschnitt Aufmerksamkeit geschenkt. Besonders aussagekräftig ist aber der Umgang mit dem «Gegenstand» von Frauengeschichte(n). 1986 befassten sich die einzelnen Kapitel noch mit der verallgemeinerten Kategorie «Frau», 2001 wurde die pluralisierte Kategorie «Frauen» genutzt. Als komplizierter erweist sich heutzutage die Umsetzung der «Infragestellung klar abgegrenzter binärer Geschlechterkonstruktionen» (Ausgabe 2021, S. 573) in die Sprachpraxis. Wo soll der Genderstern eingesetzt werden? Rückwirkend ist für die Geschichtswissenschaft meist problematisch. Auch die Statistik operiert traditionellerweise mit binär definierten Geschlechtern. Ein nachträgliches «Veruneinheitlichen» wäre methodisch nicht sauber. Angesichts dieser Tücken haben sich die Autorinnen des Ergänzungstextes von 2021, Elisabeth Joris und Anja Suter, von Fall zu Fall entschieden, möchten aber die Diskussion weiterführen. Aus dem Frauenstreik von 1991 wird der Frauen*streik von 2019.

Als letzter Vergleichspunkt scheint mir aufschlussreich, mit welcher Aussage zum Stand der Frauenbewegung die verschiedenen Editionen enden und was daraus jeweils über die Selbstwahrnehmung der Frauenbewegung gelesen werden kann. 1986 bemängelten die Autorinnen die Orientierungsschwierigkeiten der Frauenbewegung nicht nur gegenüber neuen Herausforderungen wie «Umweltverschmutzung, Aufrüstung und neuer Technologie», sondern auch im «konservativen Klima der späteren 80er Jahre». Die Selbstfindung sei nun umso dringender (S. 483). 15 Jahre später schliesst der Text mit einer Reihe desillusionierter Feststellungen: Beklagt wird der «Verlust des grossartigen Gefühls der Zusammengehörigkeit», die «geringe öffentliche Aufmerksamkeit» und die Attraktivitätseinbusse für junge Frauen. Fast trotzig wird behauptet, dass die Merkmale der Frauenbewegung «Internationalität, Pluralität und grenzüberschreitende Vernetzung bei lokaler Verankerung» den Aufbruch ins neue Jahrhundert aber gleichwohl schaffen würden (S. 584). In der jetzt vorliegenden Auflage schliesslich ist der Ton optimistischer, ja beinahe utopisch: Die neu erwachte Kraft und das Mobilisierungspotenzial der Frauenbewegung in ihrer ganzen Breite und Vielfalt gelten den Autorinnen nun als «Ausdrücke feministischer Solidarität, die für die Zukunft auf eine bessere Welt hoffen lassen» (S. 603).

Der Quellenband Frauengeschichte(n) dokumentiert nicht nur die Aktivität der Frauenorganisationen sowie den Wandel der sozialen Realität von Frauen und der Geschlechterverhältnisse in der Schweiz, er sagt auch viel darüber aus, wie die soziale Realität von den historischen Akteurinnen jeweils konzipiert und analysiert wird. Er zeigt somit, dass Geschichtsschreibung nie ohne ihren Entstehungskontext rezipiert und gedacht werden kann. Es sind neben dem kollektiv zusammengetragenem Quellenkorpus diese Leseebenen, die das Buch für die Frauen- und Geschlechtergeschichte, für die feministische Geschichtsschreibung und überhaupt für die Geschichte der Schweiz im 19. Und 20. Jahrhundert als Zeitzeugnis, als wissenschaftlichen Beitrag und als Arbeitsinstrument unverzichtbar machen.

Anmerkungen
1 Laure Wyss, Frauengeschichte(n). Ein imponierendes Frauenwerk, WoZ Nr. 40, 3. Oktober 1986, S. 6 (die Besprechung bezog sich auch auf das Werk von Lotti Ruckstuhl, Frauen sprengen Fesseln); Christine Flitner, Frauengeschichte(n), Emanzipation Nr. 10, Dezember 1986, S. 16 f.; Brigitte Studer, Histoire(s) de femmes. Deux siècles de la vie des femmes en Suisse, Femmes suisses, décembre 1986, S. 22. Die Staatsbürgerin. Zeitschrift für politische Frauenbestrebungen Nr. 2, April/ Mai/Juni 1986, S. 16 brachte zudem einen Hinweis auf das geplante Buch mit einem Spendenaufruf.
2 Louise F. Pusch, Zur Einleitung: Feminismus und Frauenbewegung – Versuch einer Begriffsklärung, in: dies. (Hg.), Feminismus. Inspektion der Herrenkultur, Frankfurt a. M., 1983, S. 9–17

Zitierweise:
Studer, Brigitte: Rezension zu: Joris, Elisabeth; Witzug, Heidi (Hg.): Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz, Zürich Verlag 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 92-94. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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